...

Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis: die Zeit.
Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann.
Mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen - je nachdem was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich in der großen Stadt und im Leben ihrer Bewohnen fest gesetzt. Schritt für Schritt drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.
Da war z.B. Herr Fusi, der Frisör. Eines Tages stand er vor seinem Laden und wartete auf Kundschaft. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte. Es war ein grauer Tag und auch in Herrn Fusi´s Seele war trübes Wetter:
"Mein Leben geht so dahin mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Was hab ich eigentlich von meinem Dasein? Ja, wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch, aber für soetwas lässt mir meine Arbeit keine Zeit."
In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusi`s Frisörgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er hängte seinen runden, steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus seiner bleigrauen Aktentasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen, grauen Zigarre paffte.
Herr Fusi schloss die Ladentür, denn es war ihm, als wurde es plötzlich ungewöhnlich kalt im Raum.
"Womit kann ich dienen, der Herr? Rasieren oder Haare schneiden?"
"Keines von beiden. Ich komme von der Zeitsparkasse. Ich bin Agent # XYQ384.
Wir wissen, dass Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen."
"Ah, das ist mir neu. Offen gestanden, ich wusste bis heute nicht einmal, dass es ein solches Institut überhaupt gibt."
"Nun, jetzt wissen Sie es. Sie sind doch Herr Fusi, der Frisör?"
"Ja, ganz recht, der bin ich."
"Sie sind Anwärter bei uns."
"Wie das?"
"Sehen Sie Herr Fusi, sie vergeuden Ihre Zeit mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie Zeit hätten, das richtige Leben zu führen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen ist Zeit. Hab ich Recht?"
"Ja, darüber hab ich mir eben Gedanken gemacht."
"Na sehen Sie, aber woher nimmt man Zeit? Man muss sie eben ersparen. Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen:
eine Minute hat 60 Sekunden und eine Stunde hat 60 Minuten. Können Sie mir folgen?"
"Ähähäh...gewiss."
"Damit Sie sich ein genaues Bild machen können, werde ich Ihnen die Zahlen hier auf Ihren Spiegel schreiben.
Eine Stunde hat also 3600 Sekunden, ein Tag hat 24 Stunden, das macht 86.400 Sekunden pro Tag. Ein Jahr hat aber wie bekannt 365 Tage, das macht mithin 31.536.000 Sekunden pro Jahr.
Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?"
"Ähhh...nun, ich hoffe so 70 oder 80 Jahre alt zu werden."
"Mhh...nehmen wir vorsichtshalber einmal 70 Jahre an, das ergibt 2 Milliarden, 207 Millionen, 520 Tausend Sekunden. Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zu Verfügung steht. Eine eindrucksvolle Zahl, aber nun wollen wir weiter sehen, wie alt sind Sie?
"Äh...42."
"Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?"
"Acht Stunden etwa."
"Mhh...das macht bereits 441.504.000. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als veloren betrachten. Wieviel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern?"
"Auch acht Stunden etwa."
"Mhh...dann müssen wir noch einmal etwa die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen. Wieviel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahlzeiten des Tages?"
"Ich weiß nicht genau, vielleicht zwei Stunden."
"Mhh...das ergibt in 42 Jahren den Betrag von 110.376.000."
"Ach...."
"Fahren wir fort. Sie leben allein mit Ihrer Mutter, was wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Dame eine volle Stunde, das heißt Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und Sie kaum noch hört.
Es ist also hinausgeworfene Zeit.
Für Einkauf, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr brauchen Sie auch eine Stunde, ferner haben Sie überflüssiger Weise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine viertel Stunde kostet. Dann wissen wir, dass Sie ein Mal wöchentlich ins Kino gehen, in einem Gesangverein mitwirken, zwei Mal in der Woche Ihren Stammtisch besuchen und sich an den übrigen Tagen mit Ihren Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen."
"Ja, aber..."
"Wir sind gleich zu ende...nun wollen wir mal sehen, was Ihnen eigentlcih noch übrig bleibt:
also Schlaf, Arbeit, Nahrung, Mutter, Wellensittich, Einkauf, Freunde, Singen...macht zusammen 1 Milliarde 324 Millionen 512 Tausend Sekunden.
Diese Summe ist also die Zeit, die Sie bereits verloren haben.
Nun wollen wir sehen, was Ihnen von Ihren 42 Jahren eigentlcih geblieben ist.
42 Jahre sind 1 Milliarde 324 Millionen 512 Tausend Sekunden minus den verlorenen 1 Milliarde 324 Millionen 512 Tausend Sekunden macht NULL null null null null null null null null null Sekunden."
"Ah....das ist also die Bilanz meines ganzen, bisherigen Lebens."
"Finden Sie nicht, dass Sie so nicht weiter wirtschaften können, Herr Fusi?
Wollen Sie nicht lieber anfangen zu sparen?"
"Ja, ja, ja, ..."
"Hätten Sie beispielsweise schon vor 20 Jahren angefangen täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen Sie jetzt ein Guthaben von 26 Millionen und 280 Tausend Sekunden.
Ich bitte Sie Herr Fusi, was macht schon eine lumpige Stunde angesichts einer solchen Summe?!"
"Nichts...das ist eine lächerliche Kleinigkeit."
"In Wirklichkeit hätten Sie ja noch viel mehr, denn wir, das heißt, die Zeitsparkasse, bewaren nicht nur die eingesparte Zeit für Sie auf, sondern wir zahlen Ihnen auch noch Zinsen dafür. Bedenken Sie, ob das nicht ein lohnendes Angebot für Sie ist."
"Das ist es ganz ohne Zweifel. Ich bin ein Unglücksrabe, das ich nicht schon längst angefangen habe zu sparen. Jetzt erst sehe ich es völlig ein und ich muss gestehen, ich bin völlig verzweifelt!"
"Dazu besteht durchaus kein Grund, es ist niemals zu spät.
Wenn Sie wollen, können Sie noch heute anfangen."
"Und ob, und ob ich will! Was muss ich tun?"
"Aber mein Bester. Sie werden doch wissen wie man Zeit spart?
Sie müssen z.B. einfach schneller arbeiten. Statt eine halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine vietel Stunde.
Sie geben Ihre Mutter in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird.
Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab und vertun sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren sogenannten Freunden."
"Gut, gut, das alles kann ich tun. Aber die Zeit, die mir auf diese Weise übrig bleibt, was soll ich mit ihr machen? Muss ich sie abliefern und wo?"
"Das überlassen Sie ruhig uns. Sie können sichr sein, dass uns von Ihrer eingesparten Zeit nicht das kleinste Bisschen verloren geht. Sie werden es schon merken, dass Ihnen nichts übrig bleibt."
"Also gut, ich verlasse mich darauf."
"Tun Sie das getrost, mein Bester. Ich darf Sie also hiermit in der großen Gemeinde der Zeitsparer als neues Mitgleid begrüßen, Herr Fusi."
"Müssen wir denn nicht irgendeinen Vertrag abschließen?"
"Wozu? Das Zeitsparen lässt sich nicht mit irgendeiner anderen Art des Sparens vergleichen. Es ist eine Sachen des vollkommenen Vertrauens - auf beiden Seiten. Uns genügt Ihre Zusage, sie ist unwiderruflich. Und wir kümmern uns um Ihre Ersparnisse. Wieviel Sie allerdings sparen - das liegt ganz bei Ihnen. Wir zwingen Sie zu nichts.
Leben Sie wohl, Herr Fusi."

Sobald der Agent in seinem Auto davongebraus war, verschwanden sie Zahlen auf dem Spiegel. Und im selben Augenblick war auch die Erinnerung an den grauen Besucher in Herrn Fusi`s Gedächtnis ausgelöscht - die an den Besucher, nicht aber an den Beschluss von jetzt an Zeit zu sparen, den hielt er nun für seinen Eigenen. Von dieser Stunde an verfolgt Herr Fusi nun alle Ratschläge des grauen Herren uns sparte Zeit, wo er nur konnte. Aber er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam: von all der Zeit, die er einsparte, bleib ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte Art und Weise und war einfach nicht mehr da...




Michael Ende: "Momo und ihre Freunde"

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